Keine Zeit?
Stress als Statussymbol – Bist du immer busy und immer gut drauf?
Jeder redet von Stress. Niemand hat Zeit. Alle sind ausgebucht. Warum tun wir uns das an? Wie Stress immer mehr zum Statussymbol und Aushängeschild für ein erfolgreiches und glückliches Leben wird.
Heute schon was vor?
Wenn du diese Frage mit „Ja, sicher, ich bin die nächsten zwei Wochen ausgebucht“ beantworten kannst, dann weißt du ja, wovon wir reden. Ständig etwas vorzuhaben gehört mittlerweile zum Alltag, um nicht zu sagen: zum guten Ton. Gleichzeitig jammern alle darüber, dass sie keine Zeit haben und ständig verplant sind. Immer mehr scheint Stress als Statussymbol zu gelten. Denn nur wer immer busy und auch viel unterwegs ist, genießt sein Leben in vollen Zügen. Ist das so? Instagram und andere soziale Medien geben uns Einblicke in das Leben vieler anderer Menschen.
Sogenannte Influencer und angebliche „Life Coaches“ lassen uns an scheinbar allen Bereichen ihres Leben teilhaben. Und unbewusst werden wir davon beeinflusst, ohne es überhaupt zu merken, natürlich. Unschönes wird dabei oft ausgeblendet. Wir entwickeln eine gewisse Faszination für dieses vermeintlich perfekte Dasein. Karriere und Beruf sind mit Fitness, Gesundheit, gutem Essen und ausgelassenem Privatleben mit Freunden oder Lebenspartnern scheinbar einfach zu vereinbaren. Das muss mir doch auch gelingen! Ich möchte auch um fünf Uhr in der Früh aufstehen, um ins Yoga zu gehen und mit meinem bereits am Vorabend zubereiteten Frühstück pünktlich in die Arbeit kommen. Denn am Abend treffe ich mich zum vergnügten Dinner mit Freunden im neuesten Trend-Lokal. Nur wer immer auf Achse ist, lebt ein glückliches und zufriedenes Leben.
Viel Programm macht glücklich – oder doch depressiv?
Der Kampf mit der Zeit ist aber immer irgendwann ein Kampf gegen Windmühlen. Manche Life Coaches sagen einem, man solle früher aufstehen, um mehr Zeit für einen selber zu gewinnen. Schön und gut. Was aber, wenn ich meine „freie Stunde“ um fünf Uhr morgens lieber mit Schlaf verbringen möchte? Wir wissen auch, dass man pro Nacht mindestens sieben Stunden Schlaf bekommen sollte. Der Tag hat aber nur 24 Stunden. Es geht hier also auch um gesundheitliche Faktoren, die zu berücksichtigen sind. Bis Mitternacht auf Achse sein und dann wieder um 5 Uhr aus dem Bett ins Fitnessstudio, das kann also keine dauerhafte Lösung sein. Zumindest keine, die dem Körper zuzumuten wäre.
Sicher gibt es Menschen, denen es schwerer fällt, ihr Leben zu ordnen. Wenn man beispielsweise unter Depressionen leidet und tagelang nicht aus dem Bett kommt, wird der gut gemeinte Rat auch nichts helfen: Steh doch einfach früher auf und mach Sport! Im Gegenteil, denn genau da werden diese Ratschläge kontraproduktiv. Jemand, der sich aus psychischen Gründen schwer tut, gewissen Lebensentwürfen zu entsprechen, fühlt sich durch solche Inszenierungen, wie wir sie in den (sozialen) Medien vorgespielt bekommen, nur noch mehr unter Druck gesetzt. Was bleibt, ist Handlungsunfähigkeit.
Einfach mal nix tun – geht das?
Doch was wir auf Instagram meistens nicht zu sehen bekommen, sind die schlechten Phasen, die jeder mal durchmacht. Anders als bei klassischer Werbung oder Film & Fernsehen fehlt uns jedoch im Bereich der sozialen Medien noch oft die Fähigkeit, diese Scheinwelten kritisch zu betrachten. Da wir es hier ständig mit vermeintlichen Privatpersonen zu tun haben, gehen wir oft von einer Realität aus. Nicht immer ist uns bewusst, dass es sich hierbei nur um gut ausgewählte und bestens inszenierte Ausschnitte handelt. Damit wird einem Stress als Statussymbol verkauft. Und es scheint fast so, als könnten wir nur glücklich sein, wenn wir auch immer schön beschäftigt sind. Doch auch die größten Influencer werden mal einen Sonntag am Sofa vergammeln, weil sie gerade auch keinen Bock auf Bouldern haben. Warum können wir nicht einfach mal entspannt nichts tun?
Die Kunst, nichts zu machen
Klar, viele Sportarten sind gerade auch dazu da, sich zwar körperlich zu betätigen, aber gleichzeitig vom Stress der Arbeit und des Alltags zu entspannen. Dennoch entwickeln wir auch bei unseren Freizeitaktivitäten oft einen gewissen Zwang und Erfolgsdruck. Wenn wir mal eine Trainingseinheit sausen lassen, dann kommt gleich das schlechte Gewissen. Das muss aber nicht sein. Es sollte durchaus auch okay sein, einen Abend mal früher nachhause zu gehen. Vielleicht triffst du dich zur Abwechslung daheim mit deinem besten Freund oder deiner besten Freundin und ihr kocht gemütlich oder plaudert einfach am Sofa. Oder du verbringst einen gemütlichen Sonntag alleine zuhause und erledigst die Dinge, für die du schon seit Jahren keine Zeit mehr hattest. Oder – und das ist vielleicht ein sehr gewagter Vorschlag – du machst und erledigst einfach mal gar nichts!
Wie auch immer du es handhabst: Viel Spaß beim Planen der übernächsten Woche! Oder vielleicht doch beim Nichtstun!